Wer steht im Zeitalter der Digitalisierung schon auf einen veralteten Wohnstil? Dennoch sind die old-fashioned anmutenden Einrichtungsstile Vintage und Shabby Chic absolute Trends. Das scheint zunächst verwunderlich und lässt die Frage aufkommen, woher die aktuelle Begeisterung für die beiden „Alten“ eigentlich kommt.
Wenn der Volksmund von einem Wohnstil im Vintage Look spricht, dann ist damit im weitesten Sinne ein altmodischer, nostalgischer Einrichtungsstil gemeint, der an vergangene Zeiten erinnert. Aber Möbel und Wohnaccessoires sind nur dann wirklich Vintage, wenn diese tatsächlich aus den 1920er- bis 1970er-Jahren stammen, echte Gebrauchsspuren aufweisen und den Charme der entsprechenden Dekaden versprühen.
Oft werden die Einrichtungsstile Vintage, Shabby Chic und Retro miteinander gleichgesetzt. Das liegt schlichtweg daran, dass die alt anmutende Optik der Möbel dazu verleitet, die Herkunft aller Stile gleichermaßen vergangenen Zeiten bzw. Jahrzehnten zuzuschreiben. Doch die Stile lassen sich aufgrund bestimmter Merkmale unterscheiden.
Wie bereits erwähnt, ist nur Mobiliar aus vergangenen Jahrzehnten echtes Vintage. Originale Stücke zu erkennen, ist aber oft schwierig. Indizien für die Echtheit von Klassikern sind unter anderem hochwertiges Material wie Vollholz und – wenn erkennbar – die Fertigung in Handarbeit. Liebhaber des Stils haben es nicht einfach, echte Vintage-Möbel zu finden, weil die Einzelstücke nicht in jedem x-beliebigen Möbelhaus zum Verkauf stehen. Die Suche nach den begehrten, raren und daher teuren Möbelstücken gestaltet sich somit schwierig und ist zeitintensiv. Aber einmal gefunden, drückt sich die Wertschätzung der stolzen Besitzer oft dadurch aus, dass sie die Schätze aufwendig und liebevoll restaurieren lassen.
Möbel im Retrostil und Shabby Chic – übersetzt schäbiger Schick – sind fast in jedem Möbelhaus erhältlich und erschwinglich. Denn im Gegensatz zu echten Vintage-Stücken sind diese Möbel kleine „Schwindler“, wenn es um ihr vermeintlich wahres Alter geht. Ihren jahrzehntealten Look und die damit einhergehenden Gebrauchspuren erschleichen sich die neuen Produkte künstlich durch den Herstellungsprozess. Oder anders formuliert: Das Mobiliar wird absichtlich im sogenannten Used-Look produziert, um den Charme und die Optik echter Vintage-Raritäten zu imitieren.
Wenn man die Erscheinungsbilder von Möbeln und Wohnaccessoires im Vintage-Stil und Shabby Chic beschreiben möchte, dann reicht die banale Klassifizierung der Looks als „alt“ nicht aus. Das würde den beliebten Einrichtungsstilen schlichtweg nicht gerecht werden. Denn sie zeichnen sich durch weitaus mehr aus.
Um den gesamten Look des Shabby Chic zu treffen, kommt es nicht nur auf die Auswahl einzelner Möbelstücke an, die Gebrauchsspuren aufweisen und dadurch alt aussehen. Erst die Mischung mit neuen Wohnaccessoires, Selbstgemachtem und edlen Materialen wie Samt, Seide und Satin bringt die Gemütlichkeit und den Zauber alter Tage in die neuen vier Wände. Den letzten Schliff für den perfekten Look erzielt man mit zarten Pastellfarben, floralen Mustern und dem detailverliebten Einsatz von beispielsweise altem Porzellan oder Spiegelglas.
Der Vintage-Look besticht durch die Liebe zu echten Design-Klassikern, die gekonnt in Szene gesetzt werden. Wahre Ikonen des Vintage sind beispielsweise der unter Individualisten und Designliebhabern allseits bekannte Nierentisch oder Eggchair. Der aus den 50er-Jahren stammende Nierentisch verdankt seinen Namen seiner asymmetrischen Form, die an das menschliche Organ erinnert. Namenspatron für den vom dänischen Architekten und Designer Arne Jacobsen entwickelten Egg-Chair – übersetzt Eier-Stuhl – ist ebenfalls dessen Formsprache.
Im Gegensatz zur gewollt abgenutzten Optik von Möbeln im Shabby Chic, setzen Liebhaber des Vintage Wert darauf, dass ihre Schmuckstücke weder verbraucht aussehen noch übermäßig viele Gebrauchsspuren tragen. Ausnahmen bilden einige wenige Möbel, bei denen mehr Kratzer und eine Patina sogar erwünscht sind, sofern die Ästhetik nicht darunter leidet.
Der Einrichtungsstil kann sich konsequent durch das gesamte Raumkonzept ziehen und wie aus einem Guss wirken. Oft werden die Vintage-Stücke nach den individuellen Vorstellungen gerne mit anderen beliebten Stilrichtungen wie beispielsweise dem Industrial Style oder Bauhaus Look kombiniert. Denn das Wechselspiel zwischen alten und neuen Wohnaccessoires erzeugt ein besonders spannendes Ambiente.
Bekanntlich sind Geschmäcker verschieden und die Auswahl an passenden Böden für die perfekte Inszenierung der charmanten Möbel ist zudem fast grenzenlos. Wer seine Vintage-Stücke in den Fokus des Gesamtambientes rücken möchte, für den eigenen sich beispielsweise cleane Böden in Beton- oder Steinoptik. Diese bilden einen spannenden Kontrast zum Mobiliar, sodass ein Wechselspiel zwischen Nostalgie und dem abgeklärten Look der Moderne entsteht. Wer seinen Einrichtungsstil hingegen völlig ins Gewand des „Alten“ kleiden möchte, für den sind Designböden im Used-Look genau das Richtige. Diese fügen sich dank ihrer künstlichen Gebrauchsspuren harmonisch ins Gesamtbild des Shabby Chic, sodass man das Gefühl hat, in eine andere Zeit katapultiert worden zu sein und inmitten von geschichtsträchtigen Räumen zu stehen.
Es ist auffällig, dass das Interesse an alt anmutenden Einrichtungsstilen gerade im Zeitalter der Informationstechnologie und Digitalisierung immer größer wird. Aber woran liegt das?
Eines der Merkmale des 21. Jahrhunderts ist seine enorme Schnelllebigkeit. Die Forschung und Entwicklung machen derartig große Sprünge, dass uns beispielsweise die Technik eines Smartphones, das wir heute kaufen, morgen schon wieder veraltet vorkommt. E-Mail- und Whatsapp-Nachrichten sausen in gefühlter Lichtgeschwindigkeit um den Globus, erreichen uns im Sekundentakt und lassen uns mit dem Antworten kaum hinterherkommen. Irgendwie hat es den Anschein, als würde die Zeit an uns vorbeirasen, während sie in vergangenen Tagen noch unser Begleiter war. Viele Menschen wünschen sich in dieser Situation die Entschleunigung ihres Alltags, um zur Ruhe zu kommen und den Augenblick zu genießen. Sie sehnen sich geradezu nach vergangenen Zeiten.
Vor diesem Hintergrund holen sich Menschen heute den Look damaliger Jahrzehnte vielleicht nicht nur ins Haus, weil sie das Design mögen. Es scheint ebenso plausibel, dass sie auch das entspannte Lebensgefühl vergangener Jahrzehnte durch ihren Einrichtungsstil wiederaufleben lassen möchten, um der Hektik unserer Tage zu entfliehen. Fast ist es so, als reisten Designliebhaber dank der alten Möbelstücke beispielsweise zurück in die 20er-Jahre und lauschten im passenden Ambiente den Klängen der Jazzmusik.
Neben diesem Aspekt spricht eine andere Sache dafür, warum sich Vintage-Stücke und der Shabby Chic großer Beliebtheit erfreuen. Die vielen Kratzer, Gebrauchsspuren und die Patina zeugen davon, dass das Mobiliar über die Jahre hinweg viel erlebt hat – auch wenn das vom schäbigen Schick lediglich vorgetäuscht wird. Die „Blessuren“ sind daher im wahrsten Sinne des Wortes Zeitzeugen, mit denen Geschichten aus damaligen Dekaden und besondere Menschen verbunden sind. Alte Erbstücke rufen beispielsweise oft Erinnerungen an Familienmitglieder hervor und wecken Gefühle. Schöne Momente fallen einem beim Anblick der alten Möbelstücke wieder ein – und an alte Geschichten erinnern sich Menschen immer wieder gerne.